Freitag, der 8. November 1918

Trotz vielfach gestörter Zug- und Telegraphen- und Fernsprechverbindungen breitet sich die Revolution aus und erreicht Westfalen und das Ruhrgebiet, Hessen, Franken, Sachsen und Württemberg. In Bayern verkünden am Morgen Plakate den „Freistaat“, sprich die von königlicher Gewalt freie Republik. Im linken Braunschweig fordern die Sozialistenführer Herzog Ernst August von Hannover zum Rücktritt auf. Der Schwiegersohn von Kaiser Wilhelm willigt nach kurzem Überlegen ein und weist seine Beamtenschaft an, alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten zu übergeben. Bereits in den Tagen zuvor hatte er die Offiziere der örtlichen Garnison angehalten, ein Blutvergießen zu vermeiden.

 

In Berlin patrouilliert rund um das Schloss, die öffentlichen Amtsgebäude und an den Bahnhöfen Militär, um eine etwaige Besetzung durch Aufständische zu vermeiden. Immerhin hält die USPD am Abend 26 Versammlungen im ganzen Stadtgebiet ab, auf denen sie zu einem Generalstreik und Massendemonstrationen für den nächsten Tag aufruft. Kanzler von Baden fürchtet Unruhen und lässt das 4. Jägerregiment, das als besonders zuverlässig gilt, von Naumburg an der Saale nach Berlin kommen.

Der Direktor der Berliner Markthallen versichert, dass die Lebensmittelversorgung Berlins für die nächste Zeit trotz der gestörten Zugverbindungen gesichert sei. Die Gemeinde Berlin besitze einen Vorrat von etwa 150.000 Zentnern Weißkohl, außerdem für etwa sechs Wochen Dörrgemüse und große Mohrrübenvorräte sowie reichlich Kartoffeln. Bei der Fleischzufuhr jedoch könne es Schwierigkeiten geben und in der Milchversorgung gibt es so große Ausfälle, dass die Rationen, die per Lebensmittelkarte zugeteilt werden, für alle mit Ausnahme der werdenden Mütter gekürzt werden. Für kleine Kinder gibt es als Ausgleich ein halbes Pfund Nährmittel wie Haferflocken, Gries oder Graupen extra.

In Sachen Abdankung des Kaisers verlängert die SPD ihr Ultimatum bis zum Abschluss des Waffenstillstandes. Immerhin hat die geforderte Umbildung der preußischen Regierung begonnen.

 

Die Zeitungen berichten auch, dass es schon in wenigen Tagen ein neues Wahlrecht geben soll. Wahlberechtigt sollen alle Frauen und Männer ab 24 Jahren sein und das bisherige Mehrheitswahlrecht, bei dem die Abgeordneten ihren Wahlkreis erobern müssen, werde durch ein Verhältniswahlrecht ersetzt. Das kommt vor allem der SPD und den Liberalen zugute, die bislang – im Gegensatz zu den stark regional verankerten Konservativen und Zentrum – proportional zu ihrem Stimmanteil weniger Sitze erhalten haben. Zum geplanten Frauenwahlrecht dagegen schreibt Tageblatt-Redakteur Paul Michaelis gönnerhaft: „Wir haben bisher dem Frauenstimmrecht nicht ohne Zögern gegenübergestanden aus Gründen, die auf der Hand liegen. Aber wir verstehen durchaus, dass in einer kritischen Stunde auch einmal ein Sprung in unbekanntes Gebiet gewagt werden muss. Und wir geben zu, dass die allgemeine Politisierung des Volkes auch die Frauen nicht grundsätzlich ausschließen darf. Ohnehin ist nicht anzunehmen, dass sich durch die Beteiligung der Frauen an den Ergebnissen der allgemeinen Wahlen, wenigstens in der nächsten Zeit, die Gesamtkundgebung des Volkes wesentlich ändern wird.“

 

In Breslau aber wird Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis entlassen. Nachdem sie von Februar 1915 bis Februar 1916 inhaftiert war, weil sie Monate vor dem Krieg die Soldaten zu Befehlsverweigerung im Falle eines Falles aufgerufen hatte, war sie drei Monate später nach Kriegsrecht ohne Vergehen zur „Abwendung einer Gefahr für die Sicherheit des Reiches“ in „Schutzhaft“ genommen worden. Die nur etwa 1,50 große, hinkende Holzhändlertochter aus dem polnischen Zamosc war schon damals eine Ikone der Linken, ihr Temperament gefürchtet. August Bebel hatte sie liebevoll-spöttisch, aber durchaus auch mit Respekt „Roserey“ genannt und von sich selber meinte sie, sie könne mit ihrem Temperament die Prärie in Brand setzen. Sie war bereits in ihrer Schulzeit Marxistin und bekam die Auszeichnungen, die ihr als bester Schülerin zustanden, wegen ihrer oppositionellen Haltung nicht. Später bezeichnete ihr Doktorvater in Zürich sie als den besten seiner Studenten. Sie liebt die deutsche Kultur, hasst aber Berlin und den deutschen Ordnungsfimmel, obwohl sie privat auch eine Pedantin ist. Trotzdem lebte sie meist in der deutschen Hauptstadt, weil sie glaubt, dort am meisten bewirken zu können. Sie brennt leidenschaftlich für die Revolution, begreift aber besser als jeder andere, dass diese kein bewaffneter Handstreich, sondern ein langer Marsch sein wird, der am besten vorher, notfalls aber im Nachherein unbedingt die Legitimation der Massen braucht. Diese Massen bearbeitet sie ständig mit Reden, Demonstrationen, Streiks und anderen Aktionen. Ihren Schülern an der SPD-Parteischule sagte sie: „Die Revolution ist großartig, alles andere ist Quark.“ Entsprechend feierte sie die Revolution in Russland, kritisiert aber ihre Umsetzung scharf. Lenin vergreife sich völlig im Mittel, notiert sie. Und: „Die Schreckensherrschaft demoralisiert.“ In der Hoffnung, die Chance zu bekommen, es selber besser zu machen, reist sie nach ihrer Entlassung sofort von Breslau nach Berlin.

Die Berliner Künstlerin Käthe Kollwitz dagegen resümiert: „Jedenfalls ist es so, wir sind – ohne es noch recht zu fassen – in einer sozialen Revolution. Die Sozialdemokratie versucht mit äußerster Kraft die Zügel zu halten. Gelingt es ihr – dann gut. Gelingt es ihr nicht, dann wird Schreckliches kommen.“

 

Im Berliner Tageblatt erhält der pazifistische Schriftsteller Andreas Latzko die Gelegenheit mit dem traditionellen Ehrbegriff abzurechnen. Der Konflikt von 1914, so schreibt er, hätte vor dem Haager Schiedshof geklärt werden könne, hätte nicht der österreichische Außenminister Graf Berchtold erklärt: „Die Ehre der Monarchie lässt es nicht zu“. „Zwanzig Millionen atmende, strebende, von Plänen und Hoffnungen strotzende Menschen liegen heute, ohne eigene Schuld als faulendes Aas unter der Erde, weil ‚die Ehre der Monarchie es nicht anders zulies'“ Nun aber dürfe kein Soldat mehr für einen „ehrenvollen Frieden“ sterben, da kein leidendes Volk durch einen Friedensschluss „entehrt“ werden könne, „weil ja immer der Starke sich entehrt, der seine Übermacht missbraucht, das Recht mit Füßen tritt und unschuldigen Menschen das Leid, wie einen Mehlsack, auf die Schultern wirft. …Sollen Männer, die man vier Jahre lang durch alle Höllen gejagt hat, noch einmal ihr Leben wagen, damit eine Macht nicht erlischt, die bei der ersten Gelegenheit, selbst ein Opfer zu bringen, länger zaudert, als je ein feldgrau eingekleideter Schneidergeselle zaudern durfte, ehe er sich in den Kugelregen warf?“

 

Am Abend versuchen 16 deutsche U-Boote, die nach dem Ausscheiden Österreich-Ungarns aus dem Krieg, ihren Stützpunkt in der Adria verlassen mussten, die Straße von Gibraltar zu passieren, um nach Kiel heimzukehren. Doch es gelingt ihnen nicht, die Absperrung aus britischen und amerikanischen Kriegsschiffen zu durchbrechen.

Schreiben Sie einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.