Mittwoch, der 10. Dezember 1919

Die Kautsky-Sammlung mit den deutschen Akten zum Kriegsbeginn ist endlich auch in Deutschland erschienen. Mitherausgeber Max von Montgelas legt in einem Artikel im Berliner Tageblatt dar, wie man gearbeitet habe und versichert, dass dabei volle Übereinstimmung mit Karl Kautsky geherrscht habe und man kein Wort an den Dokumenten verändert habe – auch nicht an den Randbemerkungen des Kaisers, für die sich das sensationslüsterne Publikum besonders interessiere. Der seriöse Forscher wisse zwischen momentanen Eingebungen Wilhelms II. und tatsächlichen Verfügungen zu unterscheiden. Montgelas weist auch auf die oft lange Laufzeit der Telegramme hin. So sei ein dringlicher Appell Deutschlands an Österreich, auf den englischen Vermittlungsvorschlag einzugehen, um 2:55 in der Nacht abgesandt worden, aber erst neun Stunden später eingetroffen. Und dann hätten die Österreicher eine Entscheidung verschoben, bis am nächsten Tag der ungarische Ministerpräsident Graf Tisza eingetroffen sei. Bis dahin aber habe Russland schon die Mobilmachung beschlossen. „Die Vermittlung war damit gescheitert.“ Montgelas zeichnet damit das lange vorherrschende Bild, die Mächte seien in den Krieg „hineingeschlittert.“

Theobald von Bethmann Hollweg, der Kanzler der Julikrise, protestiert gegen die Veröffentlichung der Randbemerkungen des Kaisers. Diese seien im Zustand augenblicklicher Erregung entstanden, was jeder gewusst habe, weshalb sie keinerlei Relevanz für politisch Entscheidungen gehabt hätten. Alle Direktiven des Kaisers hätten das Ziel gehabt, den Krieg zu verhindern. Auch entstehe ein falsches Bild der Lage, weil die Akten nur die letzte Phase der Entwicklung zeigten, die zum Weltkrieg führte.

 

Theodor Wolff dagegen bescheinigt in seinem nächsten Montagsartikel der Sammlung ein recht klares Bild zu ergeben und fügt eigene Erinnerungen zu. Am 25. Juli 1914 hätten ihm der damalige Staatssekretär im Außenamt Gottlieb von Jagow und sein enger Mitarbeiter Wilhelm von Stumm sehr überzeugend und glaubhaft versichert, Russland sei noch nicht kriegsbereit und werde desto eher still halten, je energischer Deutschland Österreich stütze. Doch schon damals sei ihm die deutsche Politik der folgenden Tage unbegreiflich gewesen. „Der Eindruck, der damals aus täglichen Unterhaltungen sich gestaltete, entspricht im allgemeinen ungefähr dem bilde, das sich jetzt aus diesen vier Dokumentenbänden ergibt. Nachdem die duetschen Staatsminister dem eitlen, gewissenlosen Wiener Gräflein [Außenminister Berchtold] die gewünschte Vollmacht gegeben hatten, wurde kühn, mit kühner Verkennung der Lage, dund dabei mit argwohnerregenden Gesten der Verstecktheit, darauf losgespielt. Dann bemerkte man, dass Berchtold und seine Mitarbeiter das ihnen dienstbar gemachte Deutschland unverschämt hintergingen, entgegen ihrer feierlichen Versicherungen serbisches Gebiet einsteckten wollten und dabei unfähig zu schenllem Handeln waren, und man sah auch den Abfall Italiens und Rumäniens, sah den unheilvollen Ernst des ringsum hallenden Gewitters, sah nun wirklich den Weltkrieg nahen. Man wollte aus dem Labyrinth heraus und fand, da keine kluge Ariadne eine Fädchen reichte und die staatsmännischen Köpfe nicht den kleinsten rettenden Einfall zeugten, den Weg nicht mehr zurück.“

Den damaligen Kanzler Bethmann Hollweg bescheinigt Wolff, am wenigsten einen Krieg gewollt zu haben – und rechnet schonungslos mit seinen gewaltigen Fehlern und Versäumnissen ab. Auch was die Veröffentlichung der kaiserlichen Anmerkungen angeht, wiederspricht er ihm: „Nein, die Veröffentlichung der ‚Marginalien‘ war nicht überflüssig, denn es schadet wahrhaftig nichts, dass das deutsche Volk sieht, wie der Herrschergeist isch austobte, und wohin man unter dem unkontrollierten Walten eines pathologischen Herrenwillens gerät. Wenn man nicht ein Plaidoyer halten, sondern die historische Wahrheit suchen will, kann man auch nicht meinen, die deutschen Regierer hätten ganz unabhängig von diesem überreizten Geiste in dem Friedenswunsch, Korpsstudentenkomment, Nachahmung friederizianischen Musters und anderer Theaterdilettantismus zu einem seltsamen Gemisch verschwammen, ihren Wagen gelenkt.“

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