Samstag, der 28. September 1918

Es steht nicht gut an der Front. Die deutsche Bevölkerung ahnt das. „Der Engländer greift in Richtung Cambrai und südlich davon an“, meldet das amtliche Bulletin der Obersten Heeresleitung (OHL). Tatsächlich haben am vergangenen Morgen vier britische Divisionen die deutschen Stellungen am Canal du Nord förmlich überrannt. 36.500 Soldaten wurden gefangen genommen, eine unbekannte Zahl entweder getötet oder in die Flucht geschlagen. Nur deshalb ist ein englischer Angriff auf Cambrai überhaupt möglich. Aber es braucht gute Karten und eine genaue Kenntnis vom Frontverlauf, um das zu erkennen. Weiter südlich sei der Feind nach Abschluss der Kämpfe überall in seine Ausgangsstellungen zurückgeworfen worden, bzw. habe nur wenig Boden gewinnen können, versichert der offizielle Bericht, der von OHL-Chef Erich Ludendorff unterzeichnet ist. Man habe den Franzosen und Amerikanern schwere Verluste zugefügt und 33 feindliche Flugzeuge abgeschossen. Darunter in launigen Reimen eine Aufforderung an die Bevölkerung, neue Kriegsanleihen zu zeichnen: „Nicht sorgen und quälen, nicht die Feinde zählen. Tu entschlossen still, was die Stunde will!“ Nicht deutet darauf hin, dass die Angriffe Teil einer gewaltigen Offensive der Ententemächte gegen die letzte, befestigte deutsche Verteidigungslinie, die Siegfriedstellung, sind, die vor zwei Tagen begonnen hat. Militärhistoriker haben ausgerechnet, dass allein die Amerikaner in den ersten drei Stunden mehr Munition verfeuerten als im gesamten, vierjährigen amerikanischen Bürgerkrieg.

 

Am Morgen erhält Reichskanzler Georg von Hertling eine Nachricht Ludendorffs, dass er umgehend ins Große Hauptquartier kommen soll, das sich seit dem Frühjahr im belgischen Seebad Spa befindet. Als Grund wird jedoch nicht die Lage an der Front genannt, sondern eine mögliche Regierungsumbildung.

Doch auch diese Neuigkeit elektrisiert das politische Berlin. Denn die linken und liberalen Parteien drängen seit Jahren darauf, dass die Regierung endlich die innenpolitischen Reformen umsetzt, die sie im Ausgleich für den „Burgfrieden“ von 1914 versprochen hat. Doch während die SPD, die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei, das katholische Zentrum und auch die Gewerkschaften seit Kriegsbeginn alles unterlassen haben, was die deutsche Kriegsführung irgendwie beeinträchtigen könnte, verharrt die Gegenseite bei wagen Verheißungen. Weder der Osterbotschaft von Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1917, in der er eine Reform des verhassten preußischen Dreiklassenwahlrechts zugesagt hatte, waren Taten gefolgt, noch der von vielen Versprechungen begleiteten Ernennung Graf Hertlings vom rechten Flügel des Zentrums zum neuen Reichskanzler im November des gleichen Jahres. Auch der Zusammenschluss von SPD, Linksliberalen und Zentrum in einem Interfraktionellen Ausschuss hat bislang noch keine wesentlichen Fortschritte erbracht. „Das letzte Jahr ist nicht ausgenutzt, sondern politisch vertrödelt worden“, resümiert der liberale Abgeordnete Conrad Haußmann selbstkritisch. Doch nun machen die sogenannten Mehrheitsparteien wieder Druck. Vehement fordern sie Hertlings Rücktritt und eine Verfassungsreform. Die neue Regierung soll endlich vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit abhängig sein und nicht wie bisher allein vom Kaiser – und auf Druck der OHL – nach Belieben ein- und auch wieder abgesetzt werden. Außerdem will man eine außenpolitische Perspektive. Denn weder gäbe es Anzeichen für einen militärischen Sieg, noch irgendeinen politischen Plan, wie man zu einem Frieden komme. Alle Informationen über die tatsächliche Lage seien unbefriedigend und die Willkür, die sich die Militärbehörden, gedeckt durch das Kriegsrecht, gegen die Zivilbevölkerung herausnähmen, unerhört. „Ludendorff regiert, nicht Hertling“, hat es SPD-Fraktionsführer Philipp Scheidemann auf den Punkt gebracht.

Doch die Parteien des Interfraktionellen Ausschusses haben ein fundamentales Problem. Zwar verfügen sie über eine satte Zwei-Drittel-Mehrheit im Reichstag, doch im Grunde haben sie nur ein einziges wirkliches Machtmittel: den Burgfrieden aufzukündigen und ihre Zustimmung zu weiteren Kriegskrediten zu verweigern. Das haben bislang nur die Abgeordneten der USPD gewagt. Bei den anderen überwiegt die Angst, damit den Kriegsverlauf tatsächlich zugunsten der Feinde zu beeinflussen und das eigene Land zu „verraten“.

Hertlings Einbestellung nach Spa scheint nun alle zu bestätigen, die seit Tagen über seine baldige Ablösung spekulieren. Bevor der frühere Philosophie-Professor, ehemalige bayerische Ministerpräsident und Großneffe von Clemens und Bettina Brentano am Abend den Zug besteigt, redet Reichstagspräsident Constantin Fehrenbach, der ebenfalls dem Zentrum angehört, dem Parteigenossen noch einmal eindringlich ins Gewissen. Hertling soll sein Amt niederlegen und sich für die Bildung einer neuen parlamentarischen Regierung verwenden.

 

Auch Theodor Wolff macht sich Hoffnungen. Deutschlands renommiertester Journalist gehört seit langem zu den Vorkämpfern einer Parlamentarisierung. Man dürfe aber nicht glauben, warnt er in einem langen Leitartikel im Berliner Tageblatt, „mit der Berufung eines nicht bis über die Ohren im Ancien Régime steckenden Reichskanzlers, mit der Ernennung von ein paar Sozialdemokraten zu Staatssekretären, oder selbst mit der Bildung eines rein parlamentarischen Ministeriums wäre etwas Entscheidendes geschehen. Man darf noch weniger glauben, am Morgen nach einer solchen Personalveränderung würden dem Frieden die Tore weit geöffnet sein.“ Denn: „Im Hause des deutschen Reiches hat alles Hintergründe und Hintertreppen, man weiß nicht, wo überall regiert wird, und jedes Kabinett hat noch ein Nebenkabinett. Eine deutsche Regierung, und besonders eine Volksregierung, hat diese ganze Unübersichtlichkeit, dieses Nebeneinander der Gewalten und Einflüsse gegen sich. Eine Volksregierung hat gegen sich jenen offiziellen Geist, der von den Schulen und den Universitäten durch das öffentliche Leben geht. Sie wird vom ersten Tage zeigen müssen, dass sie nicht anderen das Arbeitszimmer und die Salons überlassen, sich nicht mit einer Schlafstelle zu begnügen gedenkt.“ Vor allem aber müssten die Parteien, die die Politik der bisherigen Machthaber teils hingenommen, teils sogar aktiv mitgetragen hätten, den Ententeregierungen klar machen, dass sie nicht nur „in Erwartung besserer Tage, von den wahren Machthabern Deutschlands vorgeschickt“ seien.

 

Doch in Spa wird genau das geplant. Denn nach den jüngsten Angriffen der Kriegsgegner glaubt auch die Oberste Heeresleitung nicht mehr an einen deutschen Sieg.

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