Samstag, der 3. Januar 1920

Einer der zahlreichen Kriege im Osten geht zu Ende. Die Sowjetunion willigt in einen Waffenstillstand mit der neu gegründeten Republik Estland ein und erkennt deren Unabhängigkeit an. Am 2. Februar wird der Friedensvertrag von Tartu unterzeichnet. Am 30. März tritt der Frieden endgültig in Kraft.

In Deutschland fordert der Verwaltungsfachmann Kurt von Kleefeld, ein Schwager Gustav Stresemanns, ein staatlich gelenktes Landeskultur-Programm. Alle dazu geeigneten Flächen müssten systematisch und intensiv landwirtschaftlich genutzt werden, bevorzugt für den Anbau von Kartoffeln, Rüben und Roggen. Um ausreichend Dünger zu haben müssten die entsprechenden Werke bei der Kohlelieferung bevorzugt werden. Weniger geeignete Flächen müssten zu Weiden werden, wobei vor allem die Schafzucht ausgeweitet werden solle, bzw. mit Kiefern aufgeforstet werden, Moore systematisch trockengelegt werden. Mit dem nach dem Krieg eingeführten Sieben- und Acht-Stundentag sei die notwendige Erhöhung der Produktivität aber vor allem in der Kohlenindustrie nicht zu schaffen, weswegen für eine Übergangszeit von wenigstens einem Jahr die alten Arbeitszeiten per Notgesetz wieder eingeführt werden müssten, Überstunden aber gesondert vergolten werden sollten. Auch solle mit verstärkten Prämien ein Leistungsanreiz gesetzt werden. Daneben brauche es eine möglichst schnelle Vollelektrisierung Deutschlands sowie eine Kanalisierung der dafür geeigneten Flüsse und andere Verbesserungen der Infrastruktur vor allem auf dem flachen Land.

Auch Felix Pinner, der Wirtschaftsredakteur des Berliner Tageblattes, hält die gekürzten Arbeitszeiten für das falsche Mittel, der immer stärker werdenden Inflation Einhalt zu gebieten. Er bescheinigt der Regierung im abgelaufenen Jahr trotz eines grausigen Schwebezustandes mit immer neuen Schlägen „der noch immer nicht voll entladenen Katastrophe“ sehr tatkräftig gewesen zu sein. „Es ist in diesem Jahre des Unheils 1919 sogar ungeheuer viel auf dem Gebiete der Gesetzgebung, der Verwaltung, der Wirtschafts- und Finanzreform unternommen und gearbeitet worden. … Leider allerdings stand die Leistung in einem nicht sonderlich günstigen Verhältnis zu der Anstrengung, und in den meisten Gebieten, auf denen die neue Generation sich als positiv tätig erwies, brachte sie es im besten Falle nur zur kurzfristigen Erledigung von Geschäften, nicht zur endgültigen Lösung von Problemen. …Fehlte so der Regierung auf wirtschaftlichem Gebiete bei allem anerkennenswerten Eifer und aller Gewissenhaftigkeit der geniale Instinkt, der das Richtige voraussieht und voraussfühlt, so brachte sie es auch auf sozialem Gebiete bisher noch nicht zu imponierenden Lösungen. Auch hier nahm sie nicht mit schöpferischen Gedanken und aus freiem Entschluss die Führung, sondern sie ließ sich von den Ereignissen und Massenstimmungen schieben.“ Andererseits dürfe man „diejenigen, die in so schweren Zeiten ihre Tage und zum Teil wohl auch ihre Nächte den öffentlichen Dingen aufopfernd widmen, nicht den Vorwurf machen, dass sie nicht schon in dem ersten Jahre nach dem Zusammenbruch Ewiges, Endgültiges oder auch nur halbwegs Dauerndes geleistet haben. Man darf niemanden vorwerfen, dass der kein Genie oder kein Halbgott ist, und vielleicht würde die gewaltige Wirrnis unserer Zeit sogar auch Genies und Halbgötter in ihren Strudel hinunterziehen.“ Vor allem lässt Pinner die Kritik derer nicht zu, die im August 1915 mit leichter Hand die Lawine ins Rollen gebracht hätten. „Die Inflation, die Geldverfälschung und Geldverschlechterung durch den Staat, deren Quellen bis an die Schwelle der ersten Kriegsanleihen zurückreichen, ist zum reissenden Strom angewachsen, und dieser Strom nimmt von Tag zu Tag an Breite und Tiefe zu. Die durch Kriegswirtschaft und Hindenburg-Programm aus ihren organischen Wachstum herausgerissenen, in unnatürliche Bahn gedrängte Produktion ist noch nicht am Ende ihrer Missbildung angelangt. … Es gibt Leute, die das zwangsläufige Wesen solcher Krankheitsabläufe nicht begreifen, oder nicht begreifen wollen. Sie wollen nicht war haben, dass die Konsequenzen, die jetzt eintreten, zurückgeführt werden müssen auf ihre meist weit zurückliegenden Keimpunkte. … Unsäglich töricht und scheinheilig ist das Verhalten derer, die sich jetzt an ihre Brust schlagen und ausrufen: ‘Zu unserer Zeit, unter der geschmähten Kaiserherrschaft, ja selbst mitten im Kriege ist es doch viel besser gewesen.‘ Diese Leute sollen sich daran erinnern, von wem und wann die Keime der Krankheit gelegt worden sind, die jetzt den Körper von einem Delirium ins andere jagt.“

Was Kleefeld und Pinner zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: Die Vereinigten Staaten haben sich entschlossen, die zumeist recht kurzfristig vereinbarte Rückzahlung der 9 Milliarden Dollar Schulden der europäischen Partnerländer auf 50 Jahre zu strecken. Von dieser immensen Erleichterung für die britische und französische Wirtschaft, so die Hoffnung, werde mittelbar auch Deutschland profitieren.

 

Im Westen geht das Hochwasser zurück, hat aber schwere Schäden hinterlassen. Außerdem droht wegen eines Kälteeinbruchs gefährlicher Eisgang. Kölns Oberbürgermeister Konrad Adenauer telegraphiert an den preußischen und den Reichs-Innenminister, um öffentliche Hilfe vor allem für die besonders betroffene ärmere Bevölkerung.

Schreiben Sie einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.